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Romanistik

Sydrac

Sydrac le philosophe: Le livre de la fontaine de toutes sciences

Das Projekt steht im Kontext der Forschungen des Lehrstuhls zur mittelalterlichen Wissensliteratur (cf. im Schriftenverzeichnis vor allem Nr. 1: Disticha Catonis, 2: Les Proverbes Seneke, 8 und 15: Elucidarium und Lucidaires).

Es verfolgt ein doppeltes Ziel:
1. die Erstedition des Livre de la fontaine de toutes sciences,
2. die Abfassung einer Monographie zu dem enzyklopädischen Lehrdialog aus dem XIII. Jahrhundert.

Das einem „Sydrac le philosophe“ zugeschriebene Livre de la fontaine de toutes sciences ist ein enzyklopädisches Werk, das eine jahrhundertelange Wirkung in Frankreich und durch seine Übersetzungen auch in vielen anderen volkssprachlichen Literaturen Europas entfaltet hat (XIII. - XVI. Jh.). Es ist thematisch breit gefächert und verbindet in der losen Form des Dialogs zwischen dem Philosophen und einem König Boctus religiöses, ethisches, medizinisches und naturkundliches Wissen. Auch in komplexen Fällen wie den Fragen zum astrologischen Wissen, das hier zum erstenmal in der Volkssprache detailliert zugänglich gemacht wird, versucht der anonyme Verfasser stets, mit einer möglichst klaren Antwort Orientierung und Lebenshilfe zu geben.

ad 1. Edition
Die Ausgabe ist abgeschlossen:

Ernstpeter Ruhe. Sydrac le philosophe, Le livre de la fontaine de toutes sciences. Edition des enzyklopädischen Lehrdialogs aus dem XIII. Jahrhundert (Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag, 2000) 490 S. (Wissensliteratur im Mittelalter. Schriften des Sonderforschungsbereichs 226 Würzburg/Eichstätt, Bd. 34).

Mit der Edition ist die letzte terra incognita im Bereich der volkssprachlichen Enzyklopädien Frankreichs für die Forschung zugänglich gemacht worden, nachdem die übrigen – Le Livre du Trésor von Brunetto Latini, L’Image du monde von Gossouin de Metz und der anonyme Dialog Placides et Timéo (sämtlich ebenfalls im 13. Jahrhundert entstanden) – bereits in modernen Ausgaben vorliegen.

ad 2. Monographie
Der Umfang des Werks und die breite, bis ins 16. Jahrhundert andauernde Rezeption (über 60 Handschriften, mehr als 10 Drucke bis 1533) hat die Forschung bisher von jeder eingehenderen Beschäftigung abgehalten.

Die geplante Monographie soll den Text in der umfassenden Weise analysieren, die dem komplexen Gegenstand gerecht wird. Sie soll den Fragen nach Entstehung, Funktion und Rezeption nachgehen, um den geistesgeschichtlichen Ort des Werks und seinen Wandel in der Zeit vom 14. bis 16. Jh. zu bestimmen, und seinen besonderen Platz in der Entwicklung der enzyklopädischen Literatur des Mittelalters definieren.

Der methodische Ansatz wird von dem besonderen Kontext determiniert, in den das Livre de Sydrac seine Wissensvermittlung einbettet. Die Fiktion der für die Gattung ungewöhnlich breitentwickel­ten Rahmengeschichte verlagert die Entstehung des Werks in weit vor­christliche Zeit und führt das vermittelte Wissen über Noah letztlich auf Gott zurück. Von dieser Konstruktion aus, die die Dignität des Werks so weit wie möglich steigern soll, ergibt sich für den Verfasser die Notwendigkeit, nicht nur alle Spuren zu verwischen, die zu seiner Person führen könnten, sondern auch alle intertextuellen Bezüge seines Werks zu verheimlichen. Für die Erforschung des Werks impliziert dies, daß das Interesse mehr als auf die Suche nach dem Autor darauf gerichtet sein muß, den geistesgeschichtlichen Kontext zu rekonstruieren, dem der – wohl für immer – anonyme Verfasser sein Bildungs- und Interessenprofil verdankt und aus dessen Stoff- und Schreibtraditionen er den Lesegenuß steigernde Vorteile zu ziehen weiß, sowie das gesellschaftliche Umfeld zu präzisieren, für das er sein Wissen in einer für die Zeit ungewöhnlichen Weise aufbereitet.

Die Einordnung des Livre de Sydrac in die Gattungsgeschichte der zeitgenössischen Enzyklopädie fördert die Besonderheit des Werks zutage, die sich aus der Vermischung des Gängigen, aber gattungsmäßig bis dahin zumeist Getrennten (Enzyklopädie und Lehrdialog) ergibt. Das Zusammenspiel zwischen dem Philosoph und dem von ihm belehrten König spiegelt textimmanent die Gruppe der gesellschaftlich hochgestellten Adressaten des Buchs, denen Herrschaftswissen in leicht faßbarer und unterhaltsam die Themen wechselnder Form zur Verfügung gestellt wird.

Die Monographie wird sich nach der Klärung dieser Fragen und der Untersuchung der zwei Redaktionen, in denen der Text seit der zweiten Hälfte des 13. Jhs verbreitet war und die beide in ihrer unterschiedlichen Ausrichtung sehr erfolg­reich wurden, der Analyse der Themenkomplexe widmen, die im Livre abgehandelt werden (Theologie, Astrologie, Ethik, Naturwissen). Der anonyme Autor greift auf Bewährtes zurück, wenn es um die Absicherung des theologischen Grundgerüstes geht, er bezieht aber auch zu aktuellen Diskussionen Stellung, wie sie auf dem Konzil von Lyon 1274 geführt wurden (cf. Thomas von Aquin, Contra errores Graecorum). Seine Eigenständigkeit manifestiert sich am deutlichsten auf Gebieten wie der Astrologie, die durch ihn zum erstenmal in französischer Sprache zugänglich gemacht wird, bzw. durch seine Ausführungen zu einer facettenreichen Alltagsethik, die sich durch ihren besonderen Geist vom sonst Gegebenen unterscheiden.

Was hier an Wissen zusammengetragen ist und miteinander im assoziativen Gang eines Dialogs verwoben wird, ist das Ergebnis einer Kulturmischung, wie sie im Prolog metaphorisch mit der Schilderung der langen Textreise evoziert wird, die die Tradierung des Werks von Ost nach West durch die Welt des Mittelmeeres und durch die Zeiten – von Sydrac, der angeblich 847 Jahre nach Noahs Tod lebte, bis in die Mitte des 13. Jhs. – bedeutete.

Die Geschichte der Rezeption des Werks in Frankreich (Redaktionen in Handschriften und in der Druckversion) und in den Nachbarländern (Übersetzungen ins Deutsche, Englische, Italienische, Katalanische und Niederländische) – auch dies ein einzigartiges Phänomen im Kontext der übrigen französischsprachigen Enzyklopädien der Epoche – wird das Buch abrunden.